Wie ich schon geschrieben habe, habe ich begonnen, diese kleinen Geschichten über die Tempel und Schreine zu schreiben, weil es für mich immer schwieriger wurde, ein geeignetes Thema für die Ansprache für den Deutschkurs zu finden. Am Anfang habe ich versucht, das, was in der vom Tempel ausgehändigten Informationsschrift oder in dem vom Tempel im Internet veröffentlichten Text möglichst genau zu übersetzen. Aber je mehr ich schrieb, desto mehr habe ich die Geschichten interpretiert. Ich beschreibe sie detaillierter als je zuvor, auf meiner eigenen Sichtweise beruhend. Da meine Denkweise ein wenig merkwürdig erscheinen mag, möchte ich sie zuerst erklären. Zwei Beispiele :
Das erste Beispiel
Ich liebe Kirschblüten, natürlich, aber ich ziehe Blüten von Unkräutern, wie das Kyuri-gusa (Kraut mit Gurkengeruch) vor. Ihre Blüten sind schön, aber so klein, dass ich sie unter der Lupe betrachten muss, mit meinem Gesicht in Bodennähe. Ich bin traurig, wenn ich die Leute beobachte, die dieses hübsche und bescheidene Unkraut zertreten. Ich neige dazu, alles aus diesem Blickwinkel zu sehen, die kleinen Dinge wert zu schätzen.
Wenn man an die Stadt Kyoto denkt, denkt man sofort an den Tempel Kiyomizu-dera, weil es dort viele Kulturgüter und Touristenattraktionen gibt. Aber nur wenige bemerken die kleine Statue vom Jizo (einer der Verkörperungen Buddhas), der nördlich des Haupteingangs vergöttert wird. Obwohl es ihm an kulturellem Wert mangelt, ist er für mich weit interessanter als die anderen Kulturgüter. Denn die vielen Geschichten über diesen Jizo und die Geishas, Priester und Bildhauer sind voll von Esprit und Humanität.
Es gibt zum Beispiel auch den Yasaka-jinja Schrein, der sich am Ende der Shijo-dori Straße befindet, die immer von Touristen überschwemmt ist. Weil der Schrein gleichzeitig ein Eingang zum Maruyama-koen Park ist, von dem die Touristen zu verschiedenen Sehenswürdigkeiten ausschwärmen, gibt es dieses Gedränge. Aber nur wenige bemerken die Steinlaterne Tadamori-toro. Diese für Japaner typische Laterne ist für mich viel interessanter als die anderen Sehenswürdigkeiten vom Yasaka-jinja Schrein, denn das Geschehen, das sich vor dieser Laterne ereignet hat, den Kaiser, den Samurai Tadamori und einen Shinto Priester betreffend, ist noch interessanter. Außerdem wird das Geburtsgeheimnis des Shoguns Taira-no-Kiyomori gelüftet.
Der Kiyomizu-dera und der Yasaka-jinja sind in meinem Kopf sozusagen die Kirschblüte, mit anderen Worten, das Stereotyp von Kyoto, das uns daran hindert, die unbedeutenden kleinen Sehenswürdigkeiten zu bemerken und bewundern. Die kleine Statue des Jizos und die Laterne Tadamori-toro sind gewissermaßen das Unkraut Kyuri-gusa, das von der Mehrheit ignoriert, aber von hervorragenden Kennern hoch geschätzt wird.
Das zweite Beispiel
Ich gehe gern kreuz und quer durch die Stadt spazieren, denn sogar eine menschenleere Straße, auf der verschiedenes Unkraut üppig wächst, könnte sich in einen botanischen Garten verwandeln, wenn ich ein bisschen Kenntniss über Pflanzen haben würde. Basierend auf dieser Denkweise, gibt es folgende Anekdote:
An einer Straßenecke in Kyoto gibt es eine Jizostatue, von der niemand außer der Nachbarschaft Notiz nimmt, weil sie unter der Erdoberfläche steckt. Aber wenn man erfahren würde, dass dieser Jizo eine Unmenge von Verbrechern ins Jenseits verabschiedet hat, die darauf vorbeitet waren, in die andere Welt zu gehen, würde man unwillkürlich interessiert vor seinem Schrein verweilen.
In der Nähe des großen Tempels To-ji gibt es einen schäbigen Tempel, der die Besucher Mitleid empfinden lässt. Wenn man erfahren würde, dass der dortige Yatori-Jizo sich anstelle des Hohepriesters Kukai, der das Volk durch Regenmachen gerettet hatte, geopfert hat, würde man automatisch zu ihm beten, die Hände faltend.
Also, wenn man sich etwas Kenntnis über die alten historischen Objekte aneignet, die man an der Straße vorfinden kann, sich von dem Stereotyp, dass Kyoto mit dem Kiyomizu-dera Tempel gleichzusetzen ist, befreit, verwandelt sich die alltägliche Straße in ein historisches Museum.